Peter Rüegg
In Memoriam
Aus Überzeugung wollte er die DDR anfänglich unterstützen – aus Überzeugung engagierte er sich später umso entschlossener gegen die Verharmlosung des SED-Unrechts: Peter Rüegg stand zu seiner Meinung und geriet so selbst in die Mühlen des Staates, den er einst aufbauen wollte.
Geboren 1933 in West-Berlin, zog er 1948 wegen eines Lehrstellenangebots in den Ostteil der Stadt. Die sozialistischen Ideen faszinierten ihn: 1949 wurde er hauptamtlicher Jugendfunktionär in der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Mit 18 Jahren trat er in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) ein. 1953 folgte er einem Aufruf, sich freiwillig den "Bewaffneten Organen der DDR" anzuschließen, und kam zur "Deutschen Grenzpolizei". Nach dem Besuch einer Offiziersschule wurde er Unterleutnant, später Leutnant und Stellvertreter eines Kompanieführers. In dieser Funktion verantwortete er politische Schulungen der Grenzsoldaten. Doch die Reaktion der DDR-Führung auf den Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 und den ungarischen Volksaufstand im Herbst 1956 ließen seine Überzeugungen ins Wanken geraten. Schließlich war es die desolate Situation bei der Grenzpolizei selbst, die bei ihm endgültig Zweifel am SED-Regime schürte. Viele Soldaten flüchteten in den Westen, und auch Rüegg beteiligte sich an kritischen Diskussionen unter den Offizieren. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) verhaftete ihn daraufhin, weil er systematisch "feindliche Argumentationen" verbreitet hätte und "zersetzend gegen die Politik von Partei und Regierung" aufgetreten wäre. Einige wenige Worte wurden dabei aus dem Zusammenhang gerissen. Peter Rüegg glaubte, dass an ihm mit falschen Beschuldigungen ein Exempel statuiert werden sollte. Im August 1959 kam er für sechs Monate in das zentrale Untersuchungsgefängnis des MfS nach Berlin-Hohenschönhausen, weitere zwölf Monate verbrachte er in der MfS-Untersuchungshaftanstalt in Potsdam. Das MfS wollte, dass Rüegg in einem groß angelegten Schauprozess zum Tode verurteilt wird. Der entsprechende Vorschlag wurde jedoch von Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, nicht unterschrieben. Rüegg vermutete, dass die politischen Konsequenzen des Mauerbaus schwer kalkulierbar erschienen und zu viele Todesurteile in diesem Spannungsfeld kontraproduktiv sein könnten. Wegen "Schädlingstätigkeit" wurde er schließlich zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt, die er in den Gefängnissen Bautzen und Torgau verbüßen musste. Im April 1963 wurde er vorzeitig entlassen. Rüegg nahm sein Leben schnell wieder in die Hand und absolvierte er ein Abendstudium als Ingenieur-Ökonom des Bauwesens. Danach war er im Institut für Denkmalpflege und im Kulturbund der DDR tätig, restaurierte Kirchen und historische Gebäude.
Im Juli 2005 suchte Rüegg Kontakt zum Zeitzeugenarchiv der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Mithelfen wollte er, für die Rechte politisch Verfolgter einzutreten und an die bis in die Gegenwart spürbaren Folgen der SED-Diktatur zu erinnern. Dabei war es ihm ein zentrales Anliegen, insbesondere Jugendliche über das Ausmaß von Repression in der DDR zu informieren. Im Februar 2006 entschloss er sich zu einer Tätigkeit als Besucherreferent. Wenig später führte Rüegg seine ersten Schulklassen durch die Gedenkstätte – als einer der letzten lebenden Zeitzeugen der frühen Phase des ehemaligen Gefängnisses. Zurückhaltend und ruhig, doch mit beklemmender Klarheit und gewinnender Rhetorik, entschieden und kompromisslos in der Sache schilderte er die Willkür des Systems. Tief bewegt waren die Besucherinnen und Besucher, voller Hochachtung seine Kolleginnen und Kollegen, wenn der kleine, zierliche Mann seinen eigenen Lebens- und Leidensweg ohne Verbitterung und mit großer Bescheidenheit darlegte. Undramatisch beschrieb er die brutalen, erschütternden Haftbedingungen im Kellergefängnis, dem sogenannten U-Boot. Sachlich berichtete er über psychischen Druck, seine Angstzustände und bis heute prägende Erfahrungen. Still war es immer, wenn Rüegg sprach.
Im November 2009 erlitt er ausgerechnet an seinem ehemaligen Haftort, an dem schon einst sein Todesurteil drohte, während einer öffentlichen Führung einen Herzinfarkt. Teil der Besuchergruppe waren eine Krankenschwester und zwei Krankenpfleger, die ihn sofort reanimierten und so sein Leben retteten. Rüegg blieb mit ihnen in Kontakt, dankbar und schicksalshaft verbunden. Doch die Folgen schwächten ihn. Ängste kamen wieder. Erneut gab Rüegg nicht auf und stellte sich seinen Traumata. Schon im Frühjahr 2010 war er als Besucherreferent wieder im Einsatz. Zu wichtig erschien ihm die Aufgabe, der zunehmenden Verklärung der DDR entgegenzuwirken und das Demokratiebewusstsein nachwachsender Generationen zu schärfen.
Sein Leben hat Peter Rüegg in dem autobiografischen Buch „Wenn Mielke unterschrieben hätte… Vorschlag: Todesstrafe“ verarbeitet. Im Band „Sozialismus hinter Gittern. Schicksale aus Ostdeutschland“ erinnerte er an seine Haftkameraden. Zum Nachdenken wollte er immer anregen und die Mechanismen eines repressiven Systems bloßstellen: Wachsam sollten wir bleiben, damit sich Justizwillkür und Bevormundung durch eine totalitäre Ideologie nicht wiederholen.
Am 20. Oktober 2021 verstarb Peter Rüegg. Wir vermissen eine starke, gradlinige, dabei sehr unprätentiöse Persönlichkeit, die sich allen Widrigkeiten zum Trotz immer wieder zurückkämpfte und einen klaren Standpunkt vertrat. Nie drängte er sich mit seiner Geschichte in den Mittelpunkt. Gerade dadurch hinterließ Rüegg einen tiefen Eindruck. Seine Überzeugungskraft wird uns fehlen.